…das scheint für die Kinder und Jugendlichen im Kinderheim An der Alten Eiche auf den ersten Blick ein unerreichbarer Traum zu sein. Viele von Ihnen hegen derlei Wünsche wohlmöglich gar nicht, da sie aufgrund ihrer Behinderungen die Welt um sich herum ganz anders wahrnehmen als es nicht beeinträchtigte Menschen in ihrem Alter tun. Und doch stehen nun vier von ihnen im Mittelpunkt eines Filmprojektes im und um das Haus: Maike, Benny, Ana und Louis sind die Haupt-Akteure in dem Film, dessen erklärtes Ziel es ist, das Leben der Menschen (Kinder, Jugendliche und jüngere Erwachsene) mit schwerer Mehrfachbehinderung sichtbar zu machen. Im Vordergrund stehen hierbei nicht all die Angebote und Möglichkeiten der Alten Eiche als soziale Einrichtung der Behindertenhilfe, sondern die Menschen an sich.
Bereits im Vorgespräch mit dem dreiköpfigen Filmteam betont der Einrichtungsleiter Michael Isack am ersten Drehtag deshalb die Chance, die er in diesem Projekt für die Menschen und ihre Sichtbarkeit in der Gesellschaft sieht. „Es ist wichtig, dem Zuschauer einen realistischen und ungeschönten Blick zu gewähren, aber auch genauso wichtig, dabei so sanft wie möglich vorzugehen. Deshalb haben wir die Bewohnerinnen und Bewohner für den Film so ausgewählt, dass niemand von ihnen überreizt, überfordert oder gar bloßgestellt wird, und dennoch ganz klar sichtbar ist, dass es sich bei den Akteuren um Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung handelt“, so Isack.
Weniger Mitleid und mehr Freude darüber, dass die Bewohner/-innen ein würdevolles und reiches Leben führen, obwohl die allgemein gültige Definition von Reichtum hier nicht angewendet werden kann, aber eben auch nicht angewendet werden muss. Genau das ist der Punkt: auf die gezeigten Menschen treffen keine gesellschaftlichen Normen zu, sie unterliegen zwar auch in der Alten Eiche Regeln, aber keinen Zwänge von außen und können sich so entfalten, wie sie nun einmal sind.
Die Szenerie um Bewohnerin Maike wird für die Filmaufnahmen gut ausgeleuchtet und hergerichtet. Foto: Rüttgerodt
So ist es auch kein Problem, dass zwei der für den Film ausgewählten Bewohner nur wenige offensichtliche Reaktionen auf die Anwesenheit des Filmteams zeigen, obgleich sie sehr wohl bemerken, dass etwas anders ist an diesem Tag – neue Stimmen und Gerüche, all das Equipment. Maike beispielsweise reagiert unwillkürlich auf das helle Licht des Scheinwerfers, der zum Ausleuchten des Aufenthaltsraumes in Wohngruppe 1 aufgebaut wird. Sie hat für diesen besonderen Tag extra frei bekommen, denn normalerweise verbringt sie den Tag gemeinsam mit weiteren Bewohnerinnen und Bewohnern in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Auch wenn sie dort keine produktiven Arbeiten verrichten kann, wird so ein geregelter Tagesablauf möglich.
Das Filmteam arbeitet sehr professionell und hat keinerlei Berührungsängste in der Interaktion mit den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Das wird auch beim Dreh der Filmszenen mit dem zweiten Akteur sichtbar: Benny kann sich nur auf dem Boden kriechend oder krabbelnd fortbewegen, kaum etwas sehen. Er spielt mit seiner roten Kiste, die er fast immer dabei hat und wird dabei ganz behutsam und zurückhaltend gefilmt. Das besondere an Benny ist, dass über Geräusche gar eine Art Kommunikation mit ihm möglich ist – es handelt sich um Knacklaute, ein Ploppen mit dem Mund und ein Klopfen auf den Boden. Unwillkürlich reagiert der inzwischen 16 Jahre alte Junge und erwidert das jeweilige Geräusch. „Wir sind nicht sicher, ob er zumindest schemenhaft etwas sehen kann, aber umso mehr fühlt er. Wenn die Sonne scheint, genießt er die warmen Strahlen auf seiner Haut in vollen Zügen“, weiß Michael Isack zu berichten.
Die nächste Darstellerin für den entstehenden Film ist Ana. Die immobile Bewohnerin wird nach ihrer Rückkehr aus der Schule mittags für den Dreh vorbereitet, ruht sich etwas aus und begrüßt das Team schließlich freudestrahlend, als sie in ihrem Rollstuhl in den Raum mit einem Bällebad gefahren wird – den Drehort der folgenden Filmszene. Begeistert interagiert Ana mit den anwesenden Personen, lässt Bälle in das Bällebad fallen, die ihr zuvor in die linke Hand gereicht wurden und freut sich ganz offen über die besondere Aufmerksamkeit, die ihr an diesem Tag zuteilwird. Für eine zweite Szene wird der Raum abgedunkelt und die mobile Snoezelen-Station eingeschaltet. Die nun aufleuchtenden bunten Farben werden von einer Diskokugel reflektiert. Aufmerksam und fasziniert verfolgt Ana die sich bewegenden Lichttupfen und wird dabei immer ruhiger, sodass eine ganz andächtige Stimmung entsteht, die sich auf die Anwesenden überträgt – ein Moment des Innehaltens an einem für alle aufregenden Tag.
Nach diesem (Dreh-)Moment der Ruhe hat der letzte Darsteller des Tages seinen kleinen Auftritt. Louis kann es kaum abwarten, auf einem seiner Lieblingsplätze im Kinderheim An der Alten Eiche Platz zu nehmen und sich dem Aus- und Einsortieren seiner Spielzeugkiste zu widmen: der Fußmatte – von ihm genannt „Füßematte“ – an der Eingangstür zum Haus. Louis ist an einer Autismus-Spektrum-Störung erkrankt und ist dadurch sehr auf Routinen und gewisse Abläufe bedacht – viele Vorgänge haben für ihn eine bestimmte Reihenfolge, die eingehalten werden muss. Seine Wünsche diesbezüglich kann er äußern, sodass auf sein Drängen hin auch schließlich die Eingangstür geschlossen wird, die bis dahin offen stand. Ansonsten lässt der aufgeweckte Junge sich weder von der Kamera, noch von den fremden Menschen irritieren, die um ihn herumwuseln – so konzentriert ist er auf sein Spiel, das für Außenstehende zunächst nicht zielgerichtet oder logisch erscheinen mag. Ein letzter Moment lässt an diesem ersten Drehtag alle Beteiligten abermals innehalten: seine Betreuerin stimmt das Kinderlied „Das Lied über mich“ an und Louis steigt mit glasklarer Kinderstimme in den Gesang ein. Jede Strophe, jedes Wort sitzt und passt zu den Gesten, die er begleitend zum Besten gibt.
Louis sitzt auf der „Füßematte“ – so nennt er einen seiner Lieblingsplätze im Haus. Foto: Rüttgerodt
In dem Lied heißt es unter anderem: „Ich hab Hände sogar zwei, und auch Haare mehr als drei, […] ich hab links und rechts ein Bein, und ein Herz, doch nicht aus Stein, und jetzt winke ich dir zu, hallo du du du.“ Wie passend für diesen ersten Drehtag eines Films, der die Einsicht vermitteln möchte, dass es zwar Menschen in unserer Gesellschaft gibt, die nicht der Norm entsprechen und uns „anders“ erscheinen, die es aber genauso wie alle anderen verdienen und wert sind, menschlich und mit Respekt behandelt zu werden. Menschen, die trotz ihres scheinbaren „Andersseins“ ebenso einen Platz haben sollten im Bewusstsein der gesellschaftlichen Mitte.